Suspendierter Professor: Gemäßigte Transparenz

Ein suspendierter Professor, der Studentinnen zu sexuellen Handlungen nötigte, sollte nach einer Gerichtsentscheidung von Ende Oktober bald an die Universität Erfurt zurückkehren. Das Wissenschaftsministerium hat bereits Berufung eingelegt. Student:innen werden nun mit einem Fall konfrontiert, der bereits vor fünf Jahren ans Licht kam.

Demonstration an der Universität Erfurt
Studierende der Universität demonstrieren auf dem Campus gegen Universitätsstrukturen, die sexuelle Übergriffe begünstigen würden. Foto: Michael Weiland
Lilian Rist

Lilian Rist

Journalistin @demo.report

Noah Berendt

Noah Berendt

Journalist @demo.report

Triggerwarnung: Im Folgenden werden sexuelle Übergriffe geschildert. 

Viele Medien haben über den Fall berichtet. Einige wollten vor allem mit Betroffenen reden, die solche Anfragen jedoch abgelehnt haben. In der Folge hat das Medieninteresse abgenommen. Auch wir haben bislang nicht mit Betroffenen sprechen können, hielten es aber trotzdem für notwendig, die bisherigen Kenntnisse zusammenzutragen. Deshalb weisen wir ausdrücklich darauf hin, dass die Perspektive der Betroffenen hier nicht erzählt wird, aber für ein ganzheitliches Bild von erheblicher Wichtigkeit ist. Wir werden auf jeden Fall ein Update veröffentlichen, sobald uns diese Perspektive erreicht. 

Der Präsident der Universität Erfurt, Walter Bauer-Wabnegg, spricht im letzten November gegenüber dem Studierendenrat von „radikaler Transparenz“ im Umgang mit dem Fall. Wir brauchen fast zwei Wochen, um die Geschehnisse seit Bekanntwerden der Vorfälle zu rekonstruieren. Dafür sprachen wir mit Professor:innen, Student:innen, der Universität Erfurt, den zuständigen Gerichten und dem Ministerium – und doch bleibt die Frage: Warum ist ein fünf Jahre zurückliegender Fall immer noch teilweise ungeklärt?

Der Professor H. der Universität Erfurt drängte im Jahr 2015 Studentinnen zu sexuellen Handlungen. Seit 2017 ist H. suspendiert. Bereits 2019 wurde er im Rahmen eines Strafbefehlsverfahrens zu einer Geldstrafe von 23.400€ verurteilt.

Auf die Frage nach dem „Warum?“ antwortet er, er wolle mit ihr „ins Bett“.

Im November 2015 wenden sich zwei Philosophiestudentinnen an ihre Professor:innen. Sie berichten von sexuellen Übergriffen verbaler und tätlicher Art durch H. Der einen habe er in seinem Büro vorgeschlagen, mit ihm „etwas anzufangen”. Bei einem späteren Treffen fragte er sie nach ihrem Wohnort. Auf die Frage nach dem „Warum?“ antwortet er, er wolle mit ihr „ins Bett“. Sie blockt ab. Er merkt daraufhin an, dass er seine Position als Professor ausnutzen könne, dies jedoch nicht tun werde. 

Darin sieht die Staatsanwaltschaft im Jahr 2019 eine „Vorteilsnahme in Tateinheit mit versuchter Nötigung im besonders schweren Fall”. Der andere Fall, in dem es zu sexuellen Handlungen kam, wird lediglich als Vorteilsnahme deklariert. 

Darin  fordert H. eine andere Studentin auf, eine Affäre mit ihm einzugehen. Obwohl sie verneint, beginnt er, „die Studentin auf den Mund zu küssen”,  und drängt sie zu sexuellen Handlungen mit ihm in seinem Büro.

So werden die Tatbestände in dem Strafbefehl gegen H. beschrieben, den dieser annahm und damit rechtskräftig verurteilt wurde. Eine mündliche Hauptverhandlung gab es damals nicht. Dies ist einer der Gründe, warum sich das Verwaltungsgericht Meiningen nun in seinem Urteil nicht an den Strafbefehl gebunden sieht. Stattdessen bewertet die Disziplinarkammer die Tatbestände neu. 

Das VG Meiningen sieht es zwar als erwiesen an, dass die sexuelle Handlung „nicht aus einer beidseitig gewünschten Beziehung, sondern […] allein auf der Stellung des Beklagten als Professor der Zeugin” beruhte. Allerdings sieht es den Straftatbestand der sexuellen Belästigung, „der eine in sexueller Weise motivierte körperliche Berührung verlangt”, nicht erfüllt. Dass der Professor mit dem Hinweis auf seine Position den Druck auf die Studentin erhöhen wollte, erkennt das Gericht darüber hinaus ebenfalls als nicht erwiesen an.

Im Gespräch mit den Kolleg:innen räumte H. die Taten bereits 2015 ein.

Als die Professor:innen der philosophischen Fakultät 2015 von den Vorwürfen gegen H. erfahren, kontaktieren sie ihren Kollegen noch am selben Tag. Im Gespräch widerspricht er den Vorwürfen nicht. Um ihre Studierenden zu schützen, beschließen sie entsprechende Maßnahmen: Die Professorin Bärbel Frischmann wird als Vertrauensperson eingesetzt, der Fachschaftsrat wird über die Vorfälle in Kenntnis gesetzt und Alternativen zu H.s Lehrveranstaltungen angeboten. 

Noch in der gleichen Woche informiert das Seminar für Philosophie das Präsidium in einem Brief über die Vorfälle und die getroffenen Maßnahmen. Das Präsidium schaltet daraufhin die Rechtsstelle der Universität ein, die den Anschuldigungen nachgehen und dazu weitere Informationen zusammenzutragen soll, um gegebenenfalls rechtliche Schritte einzuleiten.  Bis zur Suspendierung befanden wir uns in einer Situation, in der unklar war, wohin die Ermittlungen führen, ob es überhaupt eine Anklage geben wird. H. war ja weiter regulär im Amt und durfte lehren. Trotzdem wollten wir dafür Sorge tragen, dass Studierende die Möglichkeit erhielten, die Lehrveranstaltungen des Professors zu meiden. Wir fällten also Entscheidungen, die wir im Interesse der Studierendenschaft als sinnvoll erachtet haben”, berichtet Bärbel Frischmann.

Die Ermittlungen dauern ein Jahr an. Zwei Jahre nach den Taten erfolgt die Suspendierung.

Im Februar 2016 leitet der Präsident der Universität Erfurt ein Disziplinarverfahren gegen H. ein. Zugleich bestellt er eine unabhängige Ermittlerin – eine Kommissarin, die jedoch nicht als Polizistin ermittelt. Sie untersucht die Vorfälle rund ein Jahr lang. Dabei vernimmt sie die drei Professor:innen der philosophischen Fakultät, sowie vier weitere Zeug:innen. Ihre Untersuchungen entscheiden vier Jahre später über den Ausgang der Disziplinarklage mit. Vernommen werden lediglich die Personen, die die Professor:innen benennen und zuvor zur Aussage ermutigten. Zwischen den einzelnen Befragungen liegen jeweils mehrere Wochen. 

In der Zwischenzeit melden sich weitere Studentinnen bei den Professor:innen des Seminars für Philosophie. Auch sie berichten von unangenehmen Begegnungen oder Grenzüberschreitungen durch H. in der Vergangenheit, der seit 2004 an der Universität Erfurt lehrt. „Vermutlich ist mit einer Dunkelziffer bei derartigen Dingen zu rechnen”, meint Frischmann. 

Diesen weiteren Tatvorwürfen geht das Ministerium in den Ermittlungen 2016 nicht nach. „Anhaltspunkte für die Erweiterung des Disziplinarverfahrens auf weitere Tathandlungen hätten sich zwar möglicherweise aus den Ermittlungsergebnissen der eingesetzten Ermittlungsführerin und auch des Strafverfahrens ergeben können, der Kläger habe diese jedoch nicht weiter verfolgt”, heißt es nun in der Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts. Das Gericht sehe sich daher nicht in der Lage, „diese möglichen Ermittlungsansätze, die sich zum Teil auch eher als Gerücht darstellen” nachteilig für H. zu bewerten. 

Auf Basis des Ermittlungsberichts erhebt das Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft (TMWWDG), H.s oberste Dienstbehörde, im Sommer 2017 Disziplinarklage gegen H.. Im Dezember wird er dann suspendiert.  

Bis zu seiner Suspendierung führt H. weiterhin eine Einführungsvorlesung durch, die für alle Philosophiestudent:innen verpflichtend ist. Zu seinen anderen Lehrveranstaltungen konnte die Fakultät Alternativen anbieten. Für diese Vorlesung nicht. Weil H. immer noch Professor ist, kann seine Stelle derzeit nicht neu besetzt werden. Gleichzeitig erhält er weiterhin einen Großteil seiner Dienstbezüge. Um den Lehrbetrieb aufrecht halten zu können, muss die Fakultät Lehraufträge an externe Dozierende vergeben. 

Bisher keine Strafanzeige gegen H.

Die Suspendierung erlangt mediale Aufmerksamkeit. Durch Presseberichte erfährt auch die Staatsanwalt Erfurt von dem Disziplinarverfahren und leitet von Amts wegen Ermittlungen gegen H. ein. Eine Strafanzeige gegen H. ist bis heute nicht gestellt worden. 

Die Rechtsabteilung habe zwar anfänglich erklärt, man werde von Seiten der Universität Anzeige erstatten, die Studentinnen könnten dies flankierend auch tun. Wenige Zeit später ruderte die Universität zurück: Die Studentinnen sollten selbst Anzeige erstatten, man werde dies unterstützen. Dieser Schwenk habe das Vertrauen der Studentinnen erschüttert, erfahren wir aus Universitätskreisen. Die Universität wollte dazu bislang keine Stellung nehmen und verwies auf die noch nicht rechtskräftige Verurteilung.

Das Wissenschaftsministerium legt Berufung ein.

Fünf Jahre nach den Vorfällen entscheidet das Verwaltungsgericht Meiningen im Oktober 2020, dass H. durch seine Taten ein Dienstvergehen beging. Er darf  also vorerst seinen Beamtenstatus behalten und womöglich weiterhin an der Universität lehren. Die Disziplinarkammer erkennt jedoch lediglich ein Dienstvergehen an, das zu einer Gehaltskürzung des Professors um 20 Prozent für die Dauer von 30 Monaten führen soll, „um den Beamten zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen des Beamtentums zu wahren”. 

Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Das TMWWDG hat am 16. Dezember 2020 Berufung dagegen eingelegt mit der Begründung: „Das Wissenschaftsministerium strebt eine endgültige Entfernung des Professors aus dem Hochschuldienst an.” Bis zu  einer endgültigen Klärung der Vorwürfe bleibt der Beklagte seines Dienstes enthoben, teilt uns das Ministerium mit und unterstreicht damit die Forderungen von Seiten der Studierenden und der Universität

Nein heißt Nein
Studierende prangern auf der Demonstration vom 12.12. patriarchale Strukturen an der Universitä Erfurt an. Foto: Michael Weiland

Protest gegen das Urteil

Die Studierendenschaft reagierte zuvor auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts mit Wut und Entsetzen. Hochschulgruppen und Fachschaftsräte vernetzen sich und organisieren im Dezember eine Demonstration auf dem Campus. Das Motto: „Nein heißt Nein! Gegen sexualisierte Belästigung, Machtmissbrauch und patriarchale Gewalt auf dem Campus, in Erfurt – überall!“

Viele der Protestierenden haben nur durch ihre Kommiliton:innen von dem Fall erfahren, da sie selbst erst viel später an die Universität kamen. So auch Franziska Bergholtz, die im 5. Semester Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität studiert. Als Teil des Fachschaftsrates „Philosophie“ hat sie die Demonstration mitorganisiert: „Ich bin davon ausgegangen, dass sich das Thema mit der Beurlaubung und der Verurteilung erledigt hätte“, sagt sie uns am Telefon, „niemand von uns hat gedacht, dass wir jetzt auf diese Art nochmal damit konfrontiert werden.“ In einem Offenen Brief appellierten Unterzeichner:innen, darunter  der Studierendenrat, zahlreiche Fachschaftsräte und Hochschulgruppen, an den Thüringer Wirtschafts- und Wissenschaftsminister, Wolfgang Tiefensee, Berufung gegen das Urteil einzulegen. „Dieses Urteil hat extreme Symbolkraft. Daran wird deutlich, wie wenig Konsequenzen ein solches Verhalten hat“, sagt Judith vom „Feministischen Forum“ der Universität Erfurt (femfo). „So ein Urteil zeigt, wie krass ein Professor seine Machtposition ausnutzen kann.“

Laut dem hochschulpolitischen Sprecher und Landtagsabgeordneten der Partei „Die LINKE”, Christian Schaft, müsse das von den Studierenden angeprangerte strukturelle Problem auch politisch angegangen werden. „Kontakt- und Beratungsstellen für Betroffene von sexueller Gewalt müssen sowohl gesetzlich als auch finanziell gestärkt werden“, sagt Schaft und kündigt an, mit den Fraktionskolleg:innen über entsprechende Maßnahmen reden zu wollen. Er sieht die Verantwortung aber auch bei den Hochschulen: „Die Thematik um die Abhängigkeiten zwischen Lehrstuhlinhaber:innen und Beschäftigten oder Studierenden lässt sich vor allem im Rahmen universitärer Strukturen angehen“. So gebe das Hochschulgesetz von 2018 zumindest in Thüringen Hochschulen den entsprechenden Spielraum, Universitätsstrukturen zu verändern.

„Wir sind eine kleine Uni, da spricht sich sowas schnell rum. Stets von Gerüchten zu hören, hinterlässt ein ungutes Gefühl.”

Die Verunsicherung der Studierenden ist groß: „Es kursieren auch Gerüchte, dass an anderen Fakultäten ähnliche Fälle auftauchen“, sagt Franziska. Auch Marieke Petersen vom Studierendenrat gibt der Vertrauensverlust zu Bedenken: „Wir sind eine kleine Universität mit familiären Strukturen, die auf ein großes Vertrauen zwischen den Universitätsmitgliedern angewiesen sind. Sollte der Professor in naher Zukunft an die Universität zurückkommen, ist diese Vertrauensbasis stark gefährdet.“ Niemand der Studierenden kann das Geschehene ungeschehen machen. Aber das Vertrauen in die Universität ist zerrüttet. 

Die angekündigte Transparenz sehen sie bislang nicht. „Über solche Fälle muss auch mehr und transparenter kommuniziert werden. Wir sind eine kleine Uni, da spricht sich sowas schnell rum. Stets von Gerüchten zu hören, hinterlässt ein ungutes Gefühl. Dass im Nachhinein keine richtige Aufklärung stattfand, macht die Sache nur noch schlimmer”, merkt Judith an. Auch zukünftig wollen die Studierenden solche Probleme selbst in die Hand nehmen. „Wir wollen gemeinsame Strukturen aufbauen, die Studierenden und Mitarbeitenden der Universität helfen, wenn sie von sexuellen Übergriffen im universitären Alltag betroffen sind“, sagt Franziska, aber aktuell in Pandemie-Zeiten sei es schwieriger geworden, sich zu organisieren. Zwar schauen derzeit alle angespannt auf die neuesten rechtlichen Entwicklungen, aber die Frage nach den Konsequenzen für die Universitätsstrukturen bleibt weitestgehend unbeantwortet.

In H.s Büro soll sich ein Buch mit dem Titel „Der perfekte Verführer” befinden.

Gegen Ende unserer Recherche stoßen wir auf Hinweise, dass sich in H.s Büro ein Buch befinden soll. Es trägt den Titel: „Der perfekte Verführer – Wie Sie garantiert jede Frau erobern”. Dies bestätigen uns zwei Quellen unabhängig voneinander. In der Buchbeschreibung steht: „Dies ist kein herkömmlicher Flirtratgeber, dieses Buch enthält machtvolle psychologische Techniken, um Frauen süchtig nach Ihnen zu machen.” Das Buch ist Teil einer Szene sogenannter “Verführungskünstler” (“Pick-Up Artists”), die Frauen als Objekte sehen, die mit den richtigen Sprüchen in eine psychische und körperliche Abhängigkeit getrieben werden sollen. In dieser Szene treffen Männerrechtler, Antifeministen und auch Sexualstraftäter aufeinander.

Im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen durchsuchen die Ermittler:innen H.s Wohn- und Büroräume. Teil des jetzigen Urteils ist indes nur die Wohnungsdurchsuchung. Ob ihnen das Buch bekannt ist, konnten uns bisher weder die Universität noch das Verwaltungsgericht beantworten. 

Seit nun mindestens drei Jahren liegt das Buch in seinem Büro. Auch ein handschriftlicher Zettel soll diesem beiliegen. Abgefasst in Form eines Tagebucheintrags.

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